Im Jahr 2017
Sozialdemokratie am Scheideweg
23.06.2017 | Die vorangegangenen Wahlen in Deutschland und in der Europäischen Union machen deutlich, dass die anhängig Beschäftigten nach Antworten auf die durch den Neoliberalismus verursachten Krisen suchen. Die soziale Spaltung in Europa nimmt zu, Arbeitnehmer*innenrechte werden abgebaut oder unterwandert. Die Demokratie in der Bundesrepublik präsentiert sich als eine Verwaltung des Status quo und strebt eine marktkonforme Demokratie an.
Doch kommen derzeit die Antworten auf die Krise von neurechten Parteien. Für Arbeitnehmer*innen stellen rechte Parteien mehr und mehr eine Alternative zu sozialdemokratische Parteien dar, die ohne Bodenhaftung bzw. Zielgruppenbindung sind. Die lange ignorierte Zunahme des Nichtwähler*innenanteils in der Arbeitnehmer*innenschaft der vergangenen Jahrzehnte legen den Verdacht nahe, dass die sozialdemokratischen Parteien in einem schleichenden Prozess deren Interessen aus dem Blick verloren haben. Dabei hat sich deutlich gezeigt: Wähler*innenpotential ist vorhanden. Das zeigte der Stimmungsaufschwung um die Wahl und Nominierung von Martin Schulz. Auch die Wahlen in Großbritannien oder die Regierungen in Portugal und der Wallonie beweisen, dass eine klassische sozialdemokratische Politik mit Verankerung in der Arbeitner*innenschaft möglich ist.
Martin Schulz hat die richtigen Fragen gestellt, doch blieb bislang konkrete und mutige Antworten schuldig. Es hat sich aber auch gezeigt, dass allein ein Personalwechsel an der Spitze einer Partei Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverluste nicht kurzfristig heilen kann. Soziale Gerechtigkeit und Solidarität sind keine Sachen, die unkonkret bleiben dürfen. Angsichts der Krise der europäischen Sozialdemokratie stellt sich die Frage, welche Politiken es gibt, um die Sozialdemokratie auf nationaler und europäischer Ebene zum Erfolg zu führen.
Die erste Fragen muss sein: Gerechtigkeit für wen und gegenüber wem? Solidarität mit wem gegen wen? Wer sind diese Vielen? Ist es die arbeitende Mitte, Dienstleistungsproletarier*innen, Industriearbeiter*innen, Crowdworker*innen oder Akademiker*innen? In der Wissenschaft gibt es inzwischen eine Diskussion über Bereitschaft politischer Amtsträger, auf Interessen der Bürger einzugehen („Responsivität“). Denn der politische Einfluss ist ungleich verteilt. Dabei ist es dringend notwendig, der Ungleichverteilung politischer Macht entgegezuwirken, da Arbeiter*innen „in vielen Bereichen andere Einstellungen als Menschen aus anderen sozialen Klassen“ haben. Wir leben keineswegs in einer klassenlosen Gesellschaft, jedoch sind die politischen Einflussmöglichkeiten der Arbeiter*innen begrenzt, da sie weniger am politischen Prozess beteiligt sind (Böckler Impuls 10/2016). Dies hat Auswirkungen auf Themen der Arbeitnehmer*innenschaft in der politischen Debatte, was sich letztlich in Positionen und Entscheidungen wiederspiegelt. Infolge dessen verläuft die politische Ungleichheit erschreckend parallel zur sozialen Ungleichheit.
Es stellt sich die Frage, ob die Parteien, die aus der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung kommen, die Ungleichverteilung politischer Macht und die soziale Ungleichheit aufnehmen – und wenn ja, wie? Fest steht, dass erneuerte Angebote an diese Klassen der abhängig Beschäftigten gemacht werden müssen, wenn man sie erneut erreichen will.
Wie in der Vergangenheit vom Kasseler Kreis – FSG diskutiert, sind die Herausforderungen um die sich zuspitzenden Konflikte um Arbeit und wirtschaftlicher Macht drängend: Harte Tarifauseinandersetzungen, Anpassung der Rahmenbedingungen unseres Sozialstaates an den Markt, zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft, Umgehung von Mitbestimmungsrechten sowie fehlende Achtung vor den Beschäftigten in den Unternehmungen und Verwaltungen. Das hat Auswirkungen auf die Haltungen der abhängig Beschäftigten und ihren Angehörigen.
Vielerorts wurde erfolgreich darauf hingearbeitet, Arbeits- und Sozialstandards der Beschäftigten abzusenken. Die Auswirkungen sind politisch und gesellschaftlich verheerend: Rechte Gruppierung wissen das entstandene Ungerechtigkeitsgefühlt als anti-elitären Ausdruck für sich zu nutzen. Doch es gibt Handlungsmöglichkeiten: Der egalitäre Ausbruch muss der Sozialdemokratie zum Vorteil gereichen, indem soziale und politische Ungleichheit glaubwürdig angegangen werden – zunächst in den eigenen Verantwortungsbereichen. Voraussetzung für ein gesellschaftliches Projekt für gesellschaftliche Mehrheiten ist, dass die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften gemeinsame Strategien in der Sozial- und Arbeitspolitik entwickeln. Das geht in erster Linie durch Personen, die in der Lage sind, dies glaubwürdig zu vertreten. Liberale Stehaufmännchen wie Macron oder Lindner dürfen nicht die Alternative zur Sozialdemokratie werden!
Von Knut Lambertin und Willi Francke